Hast du noch nicht genug von wilden Abenteuern, gefährlichen Geheimnissen, unerwarteten Wendungen und atemberaubenden Enthüllungen? Kann das sein?
Dann habe ich genau das Richtige für dich! Ein ungewöhnlicher Held, eine weitere deutsche Stadt voller Magie und Geheimnisse!
Denn Abenteuer gehen immer weiter, solange es mindestens ein Kind gibt, das bereit ist, sich in sie halsüberkopf hineinzustürzen!
Leseprobe aus dem neuen Buch:
"BOREALIS"
von Mila Bagrat
Tja, das gute alte Grönland… Wie sollt ihr es euch vorstellen? Kalt, auf jeden Fall. Groß, bergig und weiß. Und Schnee überall, aber so was von jeder Menge Schnee! Lag vielleicht daran, dass wir dort Ende Februar waren, mitten in der arktischen Polarnacht. Minus 30 Grad wären dort vollkommen normal gewesen, aber Pa berichtete bereits vom Anfang seines Einsatzes an, dass das Wetter die ganze Zeit viel milder ist, als es sein sollte. Mam zog ihn ständig damit auf, dass seine neue angeblich ach so tolle Anlage spinnt, aber er lachte nur und meinte wie immer, dass er das Wetter nicht justieren kann, sondern nur die Geräte. „So was passiert, wenn die Menschen die Erde kaputtspielen“, sagte er mit einem entschuldigenden Lächeln und bei diesem Satz kriegte ich auf einmal ein schlechtes Gewissen, weil ich mich in der Familie irgendwie fürs Spielen verantwortlich fühlte und gar nicht wusste, dass jemand den ganzen Planeten kaputtspielen kann… Ob ich auch Schuld daran hatte? Und von der anderen Seite, wenn es die Erwachsenen waren, die die Erde kaputtgespielt haben, wie sollte ich sie je wieder in Ordnung bringen? Und ob es überhaupt noch geht?
Der nördlichste grönländische Wettermesspunkt von dem Dänischen Meteorlogischen Institut sah auf jeden Fall nicht so spektakulär aus, wie es klang. Zwei kleine dunkelrote Häuschen und ein Container mit Geräten. Ich erinnere mich noch, wie enttäuscht ich war, als ich die ersten Fotos gesehen habe – irgendwie habe ich erwartet, dass die Anlage wie eine Weltraumstation in Miniatur eingerichtet sein wird. Aber was soll´s? Die Häuschen waren warm, alles Nötige war da, meine Eltern fühlten sich jung und glücklich wie in den Flitterwochen und ich… Ich war schlicht und einfach ü-ber-wäl-tigt von diesen schier endlosen Schneemengen um mich herum!
Wie jedes andere Kind, das im warmen Südwestdeutschland aufwuchs, hatte ich an grade mal zwei oder drei Tagen pro Winter die Möglichkeit, im Schnee zu spielen. Und mal ehrlich, im Vergleich zu dem was ich in Grönland sah, war das, was bei uns zu Hause vom Himmel fiel, kein wirklicher Schnee, eher ein schlechter Witz. Hier im Norden dagegen war der Schnee eine Naturgewalt apokalyptischen Ausmaßes! Die riesigen 3 meterhohen Schneewehen umrahmten den ganzen Standort wie ein mittelalterlicher Burgwall. Auf den Dächern unserer winzigen Häuschen türmten sich die gewaltigen Schneehauben wie riesige strahlend weiße Pilzhüte und dort, wo die Wärme aus den Häusern nach draußen trat, bildeten sich riesige Eiszapfen, sie waren viel größer als ich, manche hingen vom Dach runter, manche ragten nach oben oder wuchsen in allen Richtungen wie glitzernde Kristalle.
Ich erinnere mich, wie ich da stand – in diesem putzigen Bärenoverall, mit einem blauen Plastikeimerchen in einer Hand und einem gelben Plastikschaufelchen in der anderen Hand und dachte zum allerersten Mal in meinem Leben – es ist einfach zu viel des Guten, es soll endlich aufhören zu schneien, es reicht, das werde ich in meinem ganzen Leben nicht freischaufeln können! Ich glaube, ich habe sogar Angst bekommen und weinte hilflos, weil ich dachte, irgendwo da zwischen diesen zackigen Bergen am Horizont ist ein Zaubertöpfchen versteckt, aber anstatt Brei kommt da Schnee raus und es wird nie aufhören, egal wie oft ich schreie: „Töpfchen steh, Töpfchen steh!!!“
Ud dann die Sache mit dem Tageslicht – das war einfach die Krönung. Das gab diesem ganzen verrückten Polarzauber den letzten Schliff. Die Sonne erschien meistens erst kurz nach 10 Uhr und verschwand dann plötzlich paar Stunden später am frühen Nachmittag. Ich dachte, ich träume – eben hatten wir erst Mittagessen und dann - wums! - die erste Dämmerung! halbe Stunde später - wums! – und es ist zappenduster, so dass ich die Schaufel vor den Augen nicht mehr sah.
Damals wusste ich noch nichts über die Polarnacht. Pa versuchte, mir diese ganze Sache mit der Neigung der Erdachse um 23,4° und der Lichtbrechung in der Atmosphäre zu erklären, aber wie immer machte er es zu gründlich und ich war heillos überfordert. Ich erinnere mich nur an so was, wie „Bo, einfach erklärt ist die Polarnacht bla bla-bla bla-bla-bla, der Polartag dagegen bla bla-bla bla-bla-bla und ganz einfach sieht die Sache mit der Mitternachtssonne aus, weil bla bla-bla bla-bla-bla.“ So, jetzt wisst ihr auch Bescheid.
Dabei entstand die wahre Magie des Nordens aus der Verbindung von diesen zwei einfachen Zutaten – Schnee und Licht. In den ersten zaghaften Sonnenstrahlen erwachte die unendliche Schneewüste um mich herum zum Leben und leuchtete in allen Regenbogenfarben, ich glaube, ich konnte dabei viele Farben erkennen, für die es gar keine Bezeichnung in unserer Sprache gab. Vielleicht war ich überhaupt der erste Mensch auf der Erde, der diese Farben wahrnehmen konnte. Vielleicht waren das ganz neue der Wissenschaft noch unbekannte Farben!
Und der Schnee an sich selbst! Für all seine Formen, die ich in Grönland kennenlernte, gibt es in unserer Sprache gar keine Wörter. Bisher kannte ich nur den langweiligen trockenen Pulverschnee, der zu nichts zu gebrauchen war, und den coolen schweren Feuchtschnee, aus dem man die größten Schneemänner der Welt und perfekt fliegende Schneebälle bauen konnte. Doch hier lag ein völlig unbekanntes Terrain zu meinen Füßen. Paar Meter weiter von unserer Hütte, dort, wo die riesengroßen Schneewehen die einzige Zugangstrasse für die Schneemobile umrahmten, konnte man Blätterteigschnee finden – so nannte ich die Sorte von dem unberührten Urschnee, der sich während des ganzen Polarwinters ansammelte. An der Oberfläche schmolz er und verdichtete sich zu einer ganz glatten grau-blauen Schicht, dann schneite es wieder, die neue Schicht Schnee legte sich darüber, verdichtete sich und so ging es unendlich weiter. Mit einem flachen Spachtel aus Pa´s Werkzeugkiste konnte ich perfekte quadratische Torten aus dem Schnee ausschneiden, dank den unterschiedlichen Schichtschattierungen von graublau bis schneeweiß war die Ähnlichkeit mit dem Blätterteig fast schon verblüffend. Ich eröffnete eine Konditorei auf den hölzernen Stufen vor dem Haus und verkaufte an meine Mam Torten und Kuchen, Plätzchen und Muffins.
An dem Generatorhäuschen schmolz der Schnee stärker, wurde dann während der unendlichen kalten Nächte schockgefroren und in den ersten Sonnenstunden wieder erwärmt, was dazu führte, dass sich einzelne sechseckige erbsengroße Kristalle in der Schneedecke bildeten. So eine Stelle zu finden war ein echtes Goldgräberglück. Auf den ersten Blick sah es aus wie eine gewöhnliche raue Eisfläche, doch bereits nach einem leichten Spatenstich brach die Kruste zusammen und ergoss sich zu meinen Füßen in tausenden glitzernden Diamanten… Ich erinnere mich immer noch an dieses seltsame Geräusch - fast schon gläsernes Klirren, mit dem die Kristalle zu Boden fielen. Und diese Farben und das Leuchten… Ich schaufelte Eimer voll von diesen eiskalten Juwelen und schüttelte sie der lachenden Mam direkt vor die Füße, ich bot ihr meine ganzen Reichtümer an und versprach, dass wir ewig davon leben könnten und niemand mehr arbeiten müsste, außer nur so zum Spaß, wie wir, die abenteuerlichen Van Dykes mitten in Grönland!
In der zweiten oder dritten Nacht unseres Urlaubes passierte es dann. Noch heute kann ich die Angst spüren, die mich damals gepackt hatte, obwohl ich längst weiß, dass sie vollkommen überflüssig war. Weit nach Mitternacht wurde ich von Mam unsanft aus tiefem Schlaf gerissen. In dem unsicheren blauen Licht von den Bildschirmen der Messstation wirkten meine Eltern gespenstig blass. Sie zogen sich hastig an und flüsterten furchtbar aufgeregt miteinander. Pa wickelte mich einfach so in meinen Schlafsack ein, legte noch seine dicke Arbeitsjacke drüber und trug mich wie ein unförmiges Bündel aus dem Haus raus in die bitterkalte schwarze Polarnacht hinein. Sofort fing ich an zu flennen, ich meine, wer würde es nicht? In dieser Situation? Ich dache, wir sind erledigt, wenn wir so schnell das Haus verlassen - mitten in der Nacht mitten in der Wildnis, dann ist was Schlimmes passiert, etwas wirklich richtig Übles, ein Brand, ein Erdbeben, eine Überschwemmung oder wir werden von einer Bande wütender Eisbären angegriffen oder alles gleichzeitig – das Haus steht in Flammen, die Erde bebt, das Meer erobert die Ufer und zähnefletschende weiße Bestien umzingeln uns von allen Seiten – kurzum ich war bereit alles zu glauben!
Bloß nicht das, was ich im nächsten Augenblick gesehen habe, als mein Pa mich noch fester an seine Brust presste, die große pelzige Kapuze auf meinem Kopf zurückschob und begeistert nach oben zeigte. Ich ahnte schon, dass da etwas passierte, denn die ganze Umgebung – der Schnee, die Berge, das zugefrorene Meer strahlten in seltsamen Farben, in den Augen von Pa sah ich die Wiederspiegelung von der Show, die sich am Himmel abspielte. Aber als ich endlich seiner Geste folgte und mein verweintes Gesicht nach oben richtete, vergaß ich alles mit einem Schlag – die Angst, die Tränen, die Panik… Nicht unser Haus, nein, der Himmel stand in Flammen!
Riesige schimmernde Lichtsäulen in allen Schattierungen von Grün und Orange türmten sich auf dem unendlichen königsblauen Himmel auf, an manchen Stellen verschmolzen sie miteinander, an anderen ragten sie einzeln hoch und lösten sich in strahlenden Lichtwirbeln auf. Leuchtende Fäden aus Silber und Gold zogen sich über den gesamten Horizont, es war, als würde sich da oben über unseren Köpfen eine neue Dimension eröffnen, etwas, was man gar nicht beschreiben kann. Die Luft knisterte, aber die absolute Stille war trügerisch, denn alles um uns herum schien in einem kaum spürbaren hohen Ton zu vibrieren, energiebeladen wie ein Transformator unter starkem Strom. Ich sagte nichts, denn es gab nichts zu sagen, nichts, was der Schönheit dieses Schauspiels gerecht wäre. Und meine Mam umarmte uns und flüsterte mir ins Ohr:
„Das ist Aurora Borealis, das nördliche Polarlicht. Wenn wir ein Mädchen bekommen hätten, hätten wir sie Aurora genannt, und einen Jungen – Borealis. Weil es das Schönste ist, was wir mit deinem Vater je gesehen haben, und du, Borealis, das Schönste bist, was uns je passiert ist.“
Ich konnte die Augen von dem magischen Leuchten nicht abwenden. Das war also mein Name. Wunderschön in Inhalt und Form. Ich konnte nur hoffen, dass ich ihm auch die Ehre machen werde.
REINE ANSICHTSSACHE
So weit so gut. Ich heiße Borealis und bin 11 Jahre alt und ich habe Iris-Heterochromie. Eigentlich sollte ich damit anfangen, denn wenn ihr mich persönlich kennengelernt hättet, wäre es euch egal gewesen, wie ich heiße oder wie alt ich bin. Nein, ihr würdet mich bloß anstarren oder aus allen Kräften so tun, als starrt ihr mich nicht an, dabei würdet ihr mich aber verstohlen anstarren, was noch schlimmer ist, als direkt zu schauen, und nur daran denken, mein Gott, was hat denn der Junge bloß? Es ist okay, ehrlich, ihr müsst euch nicht schämen, alle tun es und ich habe mich daran gewöhnt. Ich versuche es sogar für euch so einfach zu machen, wie es nur geht, ich schiebe meine Haare zurück, schaue euch direkt ins Gesicht, und ihr könnt meine Augen so lange betrachten, wie es euch passt. Ja, so sieht eine Iris-Heterochromie aus.
Ihr müsst es nicht mal nachschlagen, ich bin so freundlich und spare euch Zeit für Googeln und beantworte gleich alles, was ihr sonst lange suchen würdet. Es sind immer dieselben Fragen, die ich zu hören bekomme, wisst ihr? Ist echt langweilig auf Dauer… Ich denke ernsthaft darüber nach, sie zusammen mit den Antworten auf einem T-Shirt zu drucken, wäre echt praktisch!
Also, ja, ich habe es von Geburt an, aber man kann es auch durch eine Augenverletzung bekommen. Nein, es tut gar nicht weh. (Die blöden Kommentare dazu, wie „Boah, guck, was für eine Missgeburt!“, die tun weh, eine Iris-Heterochromie ist dagegen vollkommen schmerzlos). Ja, ich kann mit beiden Augen gleich gut sehen, also Sehstärke 100% beidseitig und brauche demzufolge keine Brille. Nein, man kann es nicht rückgängig machen, was vielen sicher gut gefallen würde, damit ja alle schön angepasst sind und keiner mit seiner Augenfarbe aus der Reihe tanzt. Und nein, ich werde es nicht an meine Kinder vererben, was ich definitiv an sie vererben werde ist die Toleranz und ein gewisses Fingerspitzengefühl im Umgang mit Menschen, die anders aussehen. Und nein, es ist nicht ansteckend, ansteckend ist das Benehmen von manchen Erwachsenen, die ihre Kinder dazu ermahnen, mich nicht so auffällig anzustarren, und behaupten, sie würden sonst davon selber solche Augen kriegen, das, befürchte ich, werden sie später ihren Kindern erzählen, wenn sie selber Eltern sind.
Puh… Ich glaube, das Meiste haben wir jetzt durch. Aber wartet mal, ihr wisst ja immer noch nicht, was eine Iris-Heterochromie ist? Ha, lustig, ich rede jetzt sozusagen um den heißen Brei herum, sicher habt ihr schon Angst, weil das ja wirklich nach einer ernsten Krankheit klingt. Aber in der Wirklichkeit heißt es nur, dass ich zwei unterschiedliche Augenfarben habe. Ganz konkret – mein linkes Auge ist blau, so hell-blau, dass es fast schon weiß ist, und mein rechtes Auge ist braun, allerdings so dunkelbraun, dass es fast schon schwarz aussieht. Man könnte sagen, ich bin ein blauäugiger Junge mit einem braunen Auge oder ein braunäugiger Junge mit einem blauen Auge. Reine Ansichtssache.
Meine Eltern sehen dagegen ganz „normal“ aus. Ich finde, dass sie sogar sehr gut aussehen, aber wir reden ja über die Augenfarbe. Was ich sagen will, sie haben es passend erwischt. Lustigerweise hat mein Vater braune Augen, und meine Mutter – blaue. Es sieht fast so aus, als hätte ich mich bei der Geburt nicht entscheiden können, welche Augenfarbe ich erben will – die von Mam oder die von Pa, also habe ich von jedem was genommen, damit niemand nachher schmollt. Ist eine nette Geschichte, funktioniert aber in der Wirklichkeit nicht so. Bei der Iris-Heterochromie ist die eine Farbe die richtige, die andere – die veränderte, sozusagen die falsche. Das mag aber meine Mam nicht, sie sagt, nichts an mir sei falsch, alles ist perfekt so, wie es ist. Das ist natürlich superlieb von ihr, macht mir aber das Leben mit so einem ausgefallenen Augenset nicht grade leichter.
Meine ganze Kindheit lang konnte ich alle Kinder in zwei Gruppen teilen. Die ersten sprangen aus dem Sandkasten mit einem panischen Schrei: „Maaaaama, der Junge da hat ein schwarzes Auge!“ Die anderen mit dem Satz: „Mama, der Junge da hat ein weißes Auge!“ Wie schon erwähnt, ist ja eine Ansichtssache. Und okay, es gab da auch eine dritte Gruppe, eine ganze kleine, aber immerhin. Diese Kinder sagten einfach: „Boah! Du hast ja zwei unterschiedliche Augen! Cool!“ und spielten weiter, als wäre es geklärt und damit auch irgendwie absolut in Ordnung. Was es auch war, aber naja, ihr wisst es schon… Diese Kinder wurden dann meistens zu meinen Freunden. Aber glaubt mir, viele waren es nicht.
Im Kindergarten habe ich dann eine ganz wichtige Sache gelernt. Nur eine?, würdet ihr fragen, ganz schön wenig für 3 Jahre… eingesperrt auf begrenztem Raum mit 13 weiteren Zwergen… Nein, natürlich habe ich viele nützliche Sachen gelernt, die ich später an meine Kinder weitereichen würde – zum Beispiel, Sand essen macht zwar Spaß, aber verstopft fürchterlich; Geländer beim Frost abzulecken ist generell keine gute Idee; aus Supermarkteiern schlüpfen keine Küken, auch nicht nach zwei Wochen unter dem Heizkörper, allerdings wird es eine ganz passable Stinkbombe; bevor man mit einem Regenschirm vom Garagendach springt, sollte man sich zumindest Grundgesetze der Physik von Erwachsenen erklären lassen und so weiter und so fort. Aber das sind eher allgemeine Empfehlungen, keine richtig tiefen markerschütternden Erkenntnisse… außer der Sache mit dem Regenschirm, die war schon irgendwie heftig – verstauchtes Fußgelenk und eine leichte Gehirnerschütterung. Die wirklich wichtige Erkenntnis war, dass manche Kinder grausam sind, weil sie dumm sind und es nicht anders können, und manche weil sie klug sind und Spaß daran haben grausam zu sein.
Meine Erzieherin war eine junge energische extrem motivierte Frau, die gerade einen berufsbegleitenden Lehrgang in Mobbing- und Konfliktberatung abgeschlossen hatte. Fragt mich nicht, was es bedeuten soll. Man könnte annehmen, sie wäre jetzt imstande, Streitigkeiten zu lösen und systematisches Ärgern von Kindern durch andere Kinder vorzubeugen. Wer hätte gedacht, dass sie - frisch ausgebildet und übermotiviert – es selber auslösen würde? Ungewollt, aber immerhin. An meinem ersten Tag in der Kita stellte sie mich vor der versammelten Erdmännchen-Mannschaft (ich habe meine berufliche Karriere bei den „Erdmännchen“ begonnen, später wechselte ich zu den „Eichhörnchen“, habe aber keine deutlichen pädagogischen Qualitätsunterschiede festgestellt) und verkündete feierlich, dass ich ein junger Mann mit einer Besonderheit bin, dabei sprach sie das Wort „Besonderheit“ mit so einer tiefen flüsternden Stimme, fast schon mit einem andächtigen Hauchen, dass wirklich auch das letzte Erdmännchen auf mich aufmerksam geworden war und angestrengt versuchte, diese spannende Besonderheit zu entdecken, fast wie im Spiel „Finde 5 Unterschiede!“ Die Erzieherin sagte, es sei sehr wichtig, die Menschen zu akzeptieren, wie sie sind, denn wir alle seien besonders, nur manche wie ich seien eben ein bisschen besonderer als die anderen, aber keinen im Raum kümmerte es, denn bereits nach dem ersten Wort „Besonderheit“ haben alle Kinder aufgehört zuzuhören und angefangen, nach dieser besonderen Besonderheit in meinem Äußeren zu suchen. Lange haben sie nicht gebraucht. „Hey du da, mit zwei unterschiedlichen Augen“, raunte mir ein Erdmännchen aus der ersten Reihe, „was ist deine Besonderheit? Was soll das? Denkst du, du bist jetzt was Besseres, was?“ Unterdessen schien die Erzieherin im Großen und Ganzen mit ihrer Arbeit zufrieden zu sein, sie ging in die Leseecke, und ich blieb da, mitten in den Trümmern ihrer pädagogischen Anstrengungen.
Das Gute an Kindern ist, dass sie relativ schnell vergessen und sich durch etwas anderes ablenken lassen. Nur ein kleines blasses Mädchen mit spitzem Gesichtchen und verbissen zusammengepressten Lippen beobachtete mich aus einer Zimmerecke. Sie hat der ganzen Rede der Erzieherin aufmerksam zugehört und hat sie wörtlich als eine Anleitung zum Handeln übernommen. Sie verfolgte mich Tag für Tag, Woche für Woche und tat im Grunde genommen nichts Verbotenes, bloß jedes Mal, wenn ich glaubte, eine ruhige Minute gefunden zu haben und in einem Spiel mit einem anderen Kind glücklich und entspannt zu sein, gesellte sie sich dazu und hielt lange Reden darüber, wie wichtig es ist, Verständnis und Mitleid mit mir zu haben, weil ich ja so besonders bin. Bald konnte ich das Wort „besonders“ nicht mehr hören, ich zuckte zusammen und war den Tränen nah alleine schon, wenn mein Pa meinte, es sei besonders windig heute. Mir wäre lieber, sie würde mich bescheuert oder bekloppt nennen, bloß nicht be-son-ders.
Logischerweise eskalierte die ganze Situation irgendwann. Dem blassen verbissenen Mädchen reichte es nicht mehr, mir jeden Tag ein bisschen weh zu tun und zuzuschauen, wie die ganze Lebensfreude aus mir langsam weicht. Also erzählte sie ein paar anderen Kindern, dass sie angeblich irgendwo gehört hat, definitiv von irgendwelchen Erwachsenen, was den Wahrheitsgehalt der Information schon mal ungeheuer verstärkte, dass meine Besonderheit in der Wirklichkeit eine ansteckende Krankheit ist. Sie meinte, wenn ich die anderen infiziere (ein ganz schön gewagtes Wort für eine 5-Jährige, aber sie war auch klug), dann werden sie erst nichts merken, aber dann ganz langsam, fängt ein Auge an sich schwarz zu verfärben, wenn mein Opfer ursprünglich blaue Augen hatte oder eben weiß, wenn es am Anfang an braune Augen wären. Ihr wisst ja schon, ist eine reine Ansichtssache…
Ich saß in der Lego-Ecke und sie tanzten auf einmal um mich herum, wie eine Horde wilder Affen und schrien immerzu: „Fass uns nicht an!“, „Hau ab!“, „Verschwinde!“ und je mehr sie brüllten, dass ich sie nicht anfassen sollte, desto mehr wollte ich es tun. Irgendwann schlug dieser ganze Schmerz, Angst und Enttäuschung in meinem Inneren in eine ungeheure Wut um und ich sprang hoch und rannte furchtbar schreiend hinter ihnen her, ich jagte sie mehrmals im Kreis durch den ganzen Raum, diesen panisch kreischenden winselnden Erdmännchenhaufen und noch bevor jemand von den Erwachsenen sich einmischen konnte, ist es mir tatsächlich gelungen, ein Kind zu erwischen, ausgerechnet die Anführerin, das kleine blasse Mädchen mit dem verbissenem Gesicht. Ich packte sie am Arm, riss sie an mich und biss ihr in die Hand, nicht stark, gerade mal so, dass ein Zahnabdruck entstand. Ich wusste gar nicht was in mich gefahren ist, ich war wie ferngesteuert oder sollte man sagen wutgesteuert?
Sie brach heulend, vollkommen außer sich vor Angst zu meinen Füßen zusammen, sie schien selber an ihre Lüge zu glauben, angesteckt, gebrandmarkt, erledigt zu sein.
Die ganze Sache wurde erst fürchterlich aufgeblasen und dann aber auch irgendwie ganz schnell beigelegt. Wie ein beim Aufblasen geplatzter Luftballon. Ich erinnere mich nicht mehr wie, die Erwachsenen haben eine erstaunliche Fähigkeit, alles was ihnen unangenehm ist, sehr schnell unter den Teppich zu kehren und zu vergessen. An diesem Tag schien sich das Blatt für mich mehrmals zu wenden – zuerst wurde ich von allen angeklagt und in den Erzieherraum abgeführt – der Übeltäter, der seine Besonderheit nicht unter Kontrolle hatte, der seltsame Junge, der plötzlich absolut grundlos außer sich gerät und unschuldige Erdmännchen angreift. Und dann als meine Eltern sich der Besprechungsrunde anschlossen und die ganze Wahrheit ans Licht kam, wurde ich zwar freigesprochen, aber wie soll ich es ausdrücken? Der Nachgeschmack ist geblieben.
Aus dem Fenster im Erzieherzimmer konnte ich in meinen Gruppenraum schauen. Das blasse Mädchen saß inzwischen mitten auf dem Teppich, dort, wo sie nach meinem „heimtückischen“ Angriff liegen geblieben war. Umgeben von allen anderen Erdmännchen, die sie beruhigten, bewunderten, bemitleideten und wisst ihr was?- sie sah nicht mehr verbissen aus, ich glaube, in diesem Augenblick war sie richtig glücklich.
Es ist sehr schwierig in Worte zu fassen, was ich an diesem Tag alles verstanden habe. Vieles blieb in meinem Kopf sitzen und wirkte noch lange nach. Aber am wichtigsten war das, was mein Pa direkt nach diesem Vorfall zu mir sagte: „Es sind keine Äußerlichkeiten, Bo, die uns richtig miteinander vertraut machen. Man kann einander wie Zwillinge ähneln und trotzdem grundverschieden sein. Die äußeren Ähnlichkeiten können diese Vertrautheit vortäuschen, aber nicht mehr. Du bist mehr als ein Teil von uns, Bo, dir zuzuschauen ist es als würde mein Herz aus meiner Brust springen und ein eigenes Leben führen, aber ich kann es trotzdem weiter spüren. Vertrauter als wir es sind geht nicht. Aber dieser kleine Augenunterschied wird immer bleiben. Du magst dich allein und einsam damit fühlen, aber du bist es nicht – seit deiner Geburt haben wir mit Ma auch ein buntes Augenpaar. Man sieht es uns nicht an, aber wir haben es, wir spüren es, wir leben damit. Für immer. Und wir finden es cool, richtig cool, und wer es nicht schön findet, der hat einfach so einen tollen Jungen wie dich nicht verdient.“
Es ist viel Zeit vergangen, ich habe gelernt damit zu leben und nehme die ganze Sache mit einem gewissen Humor. Jetzt, wenn ich jemanden neuen kennenlerne, verdecke ich manchmal mit meiner Hand die eine Gesichtshälfte und frage: „Und, was meinst du, welches Auge steht mir besser? Das blaue? Oder das braune?“ Und die Menschen lächeln fast immer und dann wählen sie zaghaft – mal blau, mal braun, mal beides, denn… ihr wisst schon, es ist eine reine Ansichtssache.
DAS PROBLEM AN DER MAGIE
Eins will ich gleich klar stellen – ich glaubte nicht an die Magie. Bevor ich in diese absolut wahnsinnige Geschichte mit vollem Tempo ungebremst hineinschlitterte, war ich ein ganz normaler 11-jähriger Junge, wissenschaftlich interessiert, rational, vernünftig. Eher praktisch veranlagt. Handwerklich nicht unbegabt. Aber ohne den kleinsten Funken Glauben an irgendwelche Feen, Elfen, Geister und sonstige Märchen.“
Ende der Leseprobe